Kai-Uwe Götz
Fotografie  und Lyrik 

Ich habe so viel verlernt


Damals kannte ich es noch

Als ich mit Schuppen und Kiemen

Durch alle Meere und Flüsse

Von Augenblick zu Augenblick glitt

In jedem Flossenschlag

Das Jetzt


Ich konnte es

Als ich pfotenleise

Im Geruch der Nacht

Die Beute suchte

Mit jedem Herzschlag

Mir selbst gegenwärtig


Jetzt gehe ich aufrecht

Und mit mir geht

Das Vorgestern und Gestern

Es flüstert mir in meinem Blut

Geheimnisvolle Ratschläge zu

Für das Morgen und das Übermorgen


Ich habe alle Sinne voll zu tun

Und muss mich rückwärts wenden

Um vorwärts

Stolperfrei gehen zu können

Doch wo ich gerade stehe

Das habe ich vergessen

copyright by Kai-Uwe Götz



Alter Mann


Alter Mann, bist mein Jahreszeitenbegleiter

Bist die Grenzmitte meines Weges

Bist so verlässlich anwesend wie deine Raben


Wer hat dich dort hingepflanzt?

Immer mittig und erdverbunden

Ergebt ihr drei ein Ensemble

In dem du das Kunstwerk

Die Skulptur bist


Bist eine Skulptur, eine abstrakte

Wie eine zusammengebrochene fleischbespannte Ruine

Dein übergroßes blinde Auge ist das Zentrum

Ist die tragende Stütze

Um die sich die Ruinenreste drapieren


Wahrlich du lebst zeitlos aus der Mitte

Und doch auch innerhalb

Unveränderlich und immer da

Außerhalb aller Welten

In der das Verfallsdatum schon verfallen ist

Bevor es noch zu träumen beginnt


Alter Mann, bist kein Taubenfütterer

Bist Kämpfer, ein Rächer

Unbeweglich ins Weite fokussiert

Ist dein bedecktes, herausgerissenes Auge

Was siehst du mit dem abwesenden Auge?


Ewige Wiederholungen aus einer längst vergangenen Zeit?

In einer Eindlosschleife laufend

Mit deinem trüben grauen Auge

Siehst du Schwarz-Weiß-Filme

Deine Hände dirigieren den Takt dazu

Und alle tanzen nach deinen Willen


Die Sonne versinkt

Ich komme nicht zur Ruhe

Tanze noch immer an unsichtbaren Fäden

Alter Mann, wo warst du?

copyright by Kai-Uwe Götz



Die wilde Jagd


Aus zwielichtigem  Moore

Dringt ein Nebel heimlich

Zerfetzt von Unterholz

In die nächtlich stille Stadt

Durch gespensterhafte Schwaden

Klingt es leis und unheimlich

Als der Kirchturmglockenschlag

In die leeren Straßen hallt


Horch, es zittern die Zweige

Grad zu dieser vollen Stunde

Mittnacht

Und es ergreift dich etwas

Gleich einem Schauer ärgsten Windes

Der dir durch die Glieder jagt


Fast, als wär es mehr als Ahnen

Unheilvoll und unvergleichlich

Schlägt es in deiner Brust

Und stöhnt und schallt  

Kurz und bange

Dann verharrend

Lauschst du  erbleichend

Ist doch nichts als dunkle Stille

Nur der Wind heult

Aus dem Moor

Durch leere Straßen


Jenes jammervolle Klagen

Aus schmerzgewohnter Brust

Es ersteigt sich

Hoch hinauf zum schwarzen Himmel

Zu den dunklen Pforten dieser Nacht

Etwas beseeltes zerreißt den Schleier

Der sein Reich begrenzt hat und bewacht


Schwarzgeballte Wolkenfluchten

Ziehen eilig

Tief erdrückend

Von Geisterhand gejagte

Gottverlassene Beute rasch

Von Norden her

Von der ewigen Winternacht

Ausgesandt ziehen sie dahin

Und drohen nur

Hinfort Hinfort


Als das heulende Verlangen

Durch des Sturmes Saat hereinbricht

Dröhnt es dumpf in stille Täler

Über Moor und Wald

Durch deine stillen Straßen

Donnernd birst es in deiner Seele

Was verhüllt erschien

Es dich nun ereilt


Blinder Tor, der du gewesen

Heute, heute wird es sein

Hättest du doch gewusst

Was jetzt zu spät ist

Unausweichlich  grauenvoll

Des Teufels holde Nacht der Toten

Bricht nun herein


Bewache deine Seele,

Noch ahnungsloser Geist

Denn des  Jäger Ziel bist du

Was immer war

Das „Von nun an sei“

Es stirbt und kehrt nicht mehr heim

Heut ist ein Tod zu dir gekrochen

Er sticht und setzt dir zu

Die Mittnacht hat an dir gerochen

Und in dir wächst ihr Keim


Denn diese Nacht der Toten ist

Was du nur leise ahnst

Beseelt von deinem Nichtwissenwollen

Es lebt und keimt der Tod in dir

Dein ewiger Abgrund naht

Du trägst nun ihre bittere Frucht

Und dunkel ist sie dir

Erschreckend willst du weichen

Vor ihrer Gier


Und weil du weichst

Umfängt sie dich

Sie nennt dich Opfer ihrer Jagd

Denn hat sie einmal dich erblickt

Und fliehst du -

Bist du schon erspäht

Verfluche nicht die Todessaat

Denn du bist der, der sie gesät

Von allzu heißer Lebensgier umweht


So sei es also, dass du entgleitest

Mithin im Sturme dieser Jagd

Dem Tod geweiht als Geist im Geiste

Der Säer deiner dunklen Saat

Und weiter rüttelt der Wind

An dunkle Pforten in dieser Nacht

Er wird sie niederreißen

Die Seelenschleier der Menschheit

Drum betet

Wer für das Beten gemacht 

copyright by Kai-Uwe Götz



Im alten Wald


Im alten Wald am Ende der Weisheit

Stieg leise die Nachtfrau in die Bäume

Sie wiegte die Zweige und summte im Winde

Entzündete alte, vergessene Träume


Im alten Wald am Ende der Sehnsucht

Flüsterte die Nachtfrau im welken Laub

Mit Spinnenfingern webte sie dunkle Schatten

In Ihrem Haar schimmerte Sternenstaub


Im alten Wald am Ende der Zeit

Besang die Nachtfrau ihr altes Reich

Sehnsüchtig stieg ihr Lied in des Himmels Höhe

Nur der Mond lauschte traurig und seltsam bleich


Im alten Wald am Ende der Sterne

Saß die Nachtfrau und sang ihre Lieder

Erinnerungen schlichen durch das Unterholz

Doch kaum erspäht, verschwanden sie wieder


Im alten Wald am Ende der Welt

In dem nun alles zu schweigen anhob

Fiel die Nachtfrau in friedlichem Schlummer

Und gebar lächelnd den allnächtlichen Tod 

copyright by Kai-Uwe Götz