14.06.2022
Man kann in einschlägigen Büchern sehr viel über Rituale lesen. Vieles ist esoterischer Quatsch und wir würden uns einfach lächerlich vorkommen, wenn wir die dort beschriebenen „Rituale“ nachmachen würden.
Trotzdem sind wir von Ritualen umgeben. Ein Gottesdienst z.B. ist voll mit Ritualen. Und auch in unserem Alltag leben wir Rituale. Das sind meistens ganz alltägliche Handlungen, z.B. morgens die Tasse Kaffee, die Zigarette nach dem Essen, das Bier zum Feierabend, usw.
Wir alle wissen also was ein Ritual ist – aber wissen wir es wirklich? Wissen wir was ein Ritual in uns bewirken kann? Wissen wir um die Bedeutung eines Rituals? Was der Unterschied zwischen rituellen Handlungen und unsere alltäglichen Handlungen sind?
Der Unterschied ist der Grad an Bewusstheit mit dem wir die jeweilige Handlung vollziehen. Ein Ritual besteht aus einer Reihe von Aktionen, die sämtlich mit großer Aufmerksamkeit und dem Bestreben nach umfassender Wahrnehmung des Geschehens ausgeführt werden.
Bei profanen Tätigkeiten schweifen unsere Gedanken sehr oft ab. Oft leben wir im „Tran“ nur so vor uns hin – haben auf „Autopilot“ geschaltet und sind eigentlich nicht wirklich da. Wir sind weit, sehr weit entfernt vom „Hier und Jetzt“ von der überdeutlichen Präsenz und Lebendigkeit.
Bei einem Ritual jedoch gilt unsere ganze Aufmerksamkeit und auch unsere innere Empfindungsfähigkeit einzig dem Handlungsablauf. Rituale sind Handlungen die den Alltag umfassen, aber gleichzeitig darüber hinausgehen. Sie sind eben etwas das Bedeutung hat und deshalb genau und mit all unserer Aufmerksamkeit ausgeführt werden will.
Deshalb kann auch nicht die Rede davon sein, wir könnten in unseren normalen Alltagszustand auch nur einen Bruchteil unseres Kräftepotential ausschöpfen. Das weiß z.B. auch ein Sportler der mit Hilfe mentaler Übungen sich in einen möglichst intensiven „Hier und Jetzt“-Zustand versetzt, um aus diesem Zustand der gleichzeitigen Ruhe und höchster Aufmerksamkeit heraus zu handeln.
Rituale werden körperlich in Zeit und Raum ausgeführt. Sie beschäftigen uns nicht nur auf verbaler, gedanklicher, imaginativer und emotionaler Ebene, sondern beziehen auch unseren Körper mit ein.
Wir leben unsere tiefsten Fragen und Wahrheiten, verkörpern unsere heiligen Symbolen und Lebensthemen und interagieren physisch mit den archetypischen Eigenschaften der Erde und der universalen menschlichen Erfahrung. Das Eintauchen in den rituellen Vorgang nimmt uns mehr in Anspruch, als wir vermuten.
Bei einem Ritual konzentrieren wir uns dabei voll und ganz auf das was wir gerade tun. Versuchen Sie, ihre Handlungen nicht nur zu beobachten, sondern auch die Gefühle wahrzunehmen, die Sie dabei haben – das bedeutet es nämlich zu seinem Inneren Kontakt aufzunehmen – spüren Sie sich selbst. Wie fühlen Sie sich in Ihrem Körper gerade? Das was Sie jetzt wahrnehmen sind Sie. Kein anderer Mensch ist so, und was immer Sie auch gerade wahrnehmen und erleben, es ist in Ordnung. Ich meine Sie sind gerade alleine und Sie müssen sich nicht vor sich selbst rechtfertigen, nicht wahr?
Wie können nun Rituale mit dem Fotografieren in Verbindung gebracht werden, oder wie können Rituale beim Fotografieren ausgeführt werden? Braucht es überhaupt Rituale innerhalb der Fotografie?
Bei mir fangen die Rituale schon vor dem Fotografieren an. Ich habe z.B. ganz bestimmte Kleidung die ich fast nur zum fotografieren anziehe. Allein das Anziehen ist schon eine Vorbereitung, eine Verbindung zum Fotografieren und zum Motiv die ich knüpfe. Da wäre die funktionale und bequeme Cargohose und meine geliebte Fotoweste in der ich all die wichtigen Kleinigkeiten unterbringe die ich schnell zur Hand haben möchte. Die Schirmmütze und die Trekkingschuhe die mir auch einen festen Halt im unebenen Gelände bieten. Mit dieser Kleidung würde ich niemals ins Kino gehen. Sie ist für das Fotografieren bestimmt und allein schon das Anziehen erfüllt mich mit Vorfreude auf das Kommende. Eine ganz bestimmte Spannung erfüllt meinen Körper und meinen Geist.
Dann wäre noch das Packen der Fototasche oder des Rucksacks. Allein in dem ich mich für Objektive, Filter, Beleuchtung, Stative und mehr entscheide, setze ich mich schon jetzt geistig mit dem Ort und Gegebenheiten auseinander. Die Frage was mich dort erwartet lässt mich ganz bewusst eine Verbindung zu ihm herstellen. Und mit all meiner Sorgfalt wähle ich meine Ausrüstung aus, überprüfe ihre Funktionalität. Dabei bin ich konzentriert bei der Sache, ganz im „Hier und Jetzt“.
Bei der Fahrt zum Ziel höre ich gerne Musik die mich beschwingt, mich emotional berührt. Ich höre z.B. sehr gerne Filmmusik aus „Herr der Ringe“; „Games of Thrones“, „Pirates of the Caribbean“ - usw. diese Art von Musik beflügelt meine Fantasie.
Bin ich dann am Ziel angekommen, stürme ich nicht gleich mit der Kamera los und fotografiere alles was mir vor der Linse kommt. Nein, ich verschaffe mir erst einmal einen groben Überblick, aber achte schon jetzt auf den Stand der Sonne und ihren Lauf, wo ist das Licht, wo wandern die Schatten hin und was versinkt in ihnen? Und dann gehe ich erst einmal ohne Kamera los, ganz ohne Gepäck. Ich wandere herum, schaue herum – meine Aufmerksamkeit steigert sich dann immer mehr und immer mehr fallen mir jetzt die Kleinigkeiten auf, ich verbinde mich geistig mit dem Ort – nehme Kontakt auf zu dem Genius Loci. Dabei bin ich zu 100% im „Hier und Jetzt“ - geistig und körperlich – 100%tige Konzentration. Ich registriere die Geräusche, fühle die Sonne auf meiner Haut, schmecke die Luft. Alle Wahrnehmungen und Empfindungen die ich in meinen Fotos einfließen lassen will – die ich aber nur dann fotografieren kann, wenn ich mir die Zeit nehme eben geistig und körperlich eine Verbindung mit dem Ort einzugehen. Wenn diese besteht – und nur dann – fange ich das Fotografieren an. Dabei kann schon mal eine Stunde ins Land gehen. Und aus Erfahrung weiß ich: kann ich diese körperlich-geistige Verbindung, aus was für Gründen auch immer, nicht schaffen, dann werden es auch keine guten Bilder. Oder Fotos die mich zufrieden stellen können. Besteht aber diese Verbindung, wenn die ersten Fotos auf dem Sensor sind, dann geschieht es in der Regel recht schnell dass ich in den Flow gleite, der Zustand in dem ich meine besten Fotos gemacht habe – und hoffentlich noch machen werde.
Admin - 11:49:44 | Kommentar hinzufügen
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